Bindungsstörungen: Ursachen, Anzeichen und Umgang mit betroffenen Kindern

Bindungsstörungen

Eine sichere Bindung zwischen Kind und Bezugsperson ist eine der wichtigsten Grundlagen für eine gesunde psychische Entwicklung. Doch nicht alle Kinder entwickeln eine stabile Bindung – manche zeigen Bindungsstörungen, die sich durch starke Ängste, Unsicherheit oder Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Kontakt äußern.

Doch was genau sind Bindungsstörungen, wie entstehen sie, und wie können Eltern oder Fachkräfte betroffene Kinder unterstützen? Dieser Artikel gibt einen Überblick über klinisch relevante Bindungsstörungen, ihre Ursachen, Symptome und Handlungsmöglichkeiten.


Was sind Bindungsstörungen?

Bindungsstörungen sind ernsthafte emotionale und soziale Beeinträchtigungen, die entstehen, wenn ein Kind keine stabile, verlässliche Beziehung zu seinen primären Bezugspersonen aufbauen konnte.

Kinder mit einer Bindungsstörung haben oft große Schwierigkeiten:

  • Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen
  • Emotionen angemessen zu regulieren
  • Soziale Beziehungen zu gestalten

Bindungsstörungen sind in der ICD-10 (F94.1 und F94.2) und der DSM-5 als diagnostische Kategorien aufgeführt und gehören zu den reaktiven Bindungsstörungen des Kindesalters.


Ursachen für Bindungsstörungen

Bindungsstörungen entwickeln sich nicht zufällig, sondern sind meist die Folge von frühen, schwerwiegenden Beziehungserfahrungen. Häufige Ursachen sind:

1. Vernachlässigung – wenn Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden

Eine der häufigsten Ursachen für Bindungsstörungen ist emotionale oder körperliche Vernachlässigung in der frühen Kindheit.

Ein Baby ist von Geburt an darauf angewiesen, dass seine Bezugsperson zuverlässig auf seine Bedürfnisse reagiert – sei es Hunger, Müdigkeit oder das Bedürfnis nach Nähe. Wird ein Kind jedoch regelmäßig ignoriert, allein gelassen oder nicht getröstet, kann es kein Urvertrauen entwickeln.

Folgen für das Kind:

  • Es lernt, dass seine Bedürfnisse nicht wichtig sind.
  • Es entwickelt kein Vertrauen in andere Menschen.
  • Es kann Schwierigkeiten haben, emotionale Nähe zuzulassen.

Kinder, die vernachlässigt wurden, zeigen oft später distanzierte, misstrauische oder überangepasste Verhaltensweisen – sie haben nie gelernt, dass sie sich auf andere verlassen können.


2. Frühkindliche Trennungen und wechselnde Bezugspersonen

Kinder brauchen in den ersten Lebensjahren Kontinuität in ihren Beziehungen. Wenn sie früh von einer primären Bezugsperson getrennt werden, kann dies die Bindungsentwicklung erheblich stören.

Beispiele für solche Trennungen:

  • Aufenthalt in einem Heim oder einer Pflegefamilie mit vielen Wechseln.
  • Mehrere Umzüge in der frühen Kindheit.
  • Trennung der Eltern ohne stabilen Kontakt zu beiden Elternteilen.
  • Krankenhausaufenthalte ohne verlässliche Bezugsperson.

Kinder, die in den ersten Jahren keine konstante Bezugsperson haben, erleben oft Unsicherheit und Angst. Sie entwickeln keine stabile innere Bindungsstruktur und zeigen später entweder übermäßige Anhänglichkeit oder emotionale Distanz.


3. Traumatische Erfahrungen – Misshandlung oder Gewalt

Kinder, die körperliche oder emotionale Misshandlung erfahren, entwickeln oft schwerwiegende Bindungsprobleme. Anstatt sich bei Angst oder Unsicherheit an eine schützende Bezugsperson zu wenden, lernen sie, dass Nähe gefährlich oder schmerzhaft sein kann.

Folgen für das Kind:

  • Es kann sich schwer auf andere Menschen einlassen.
  • Es entwickelt übersteigerte Ängste oder Aggressionen.
  • Es meidet emotionale Nähe oder zeigt extreme Abhängigkeit.

Misshandelte Kinder entwickeln oft eine tiefsitzende Unsicherheit, die sich später in Beziehungsproblemen, Angststörungen oder sozialen Schwierigkeiten zeigen kann.


4. Eltern mit psychischen Erkrankungen oder Suchtproblemen

Wenn Eltern selbst mit schweren psychischen Erkrankungen (z. B. Depressionen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen) oder Suchterkrankungen kämpfen, sind sie oft emotional nicht erreichbar für ihr Kind.

Kinder von psychisch belasteten Eltern erleben oft:

  • Unberechenbarkeit: Mal sind die Eltern liebevoll, mal abweisend.
  • Mangelnde emotionale Verfügbarkeit: Die Eltern reagieren nicht feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kindes.
  • Angst und Unsicherheit: Das Kind weiß nie, was es erwarten kann.

Diese Kinder entwickeln häufig unsichere oder chaotische Bindungsmuster, weil sie in ihrer Kindheit keine klare emotionale Stabilität erleben konnten.


5. Eltern, die selbst Bindungsprobleme haben

Bindungsverhalten wird oft über Generationen weitergegeben. Eltern, die selbst keine sichere Bindung erlebt haben, können oft unbewusst ähnliche Muster an ihre Kinder weitergeben.

Beispiele für ungünstiges Bindungsverhalten bei Eltern:

  • Übermäßige Strenge oder emotionale Kälte.
  • Schwierigkeiten, Emotionen auszudrücken oder zu regulieren.
  • Überforderung im Umgang mit Nähe oder Distanz.

Diese Eltern möchten oft das Beste für ihr Kind, aber ihnen fehlen die emotionalen Fähigkeiten, eine sichere Bindung aufzubauen.


6. Überbehütung und fehlende Selbstständigkeit

Nicht nur Vernachlässigung, sondern auch übermäßige Kontrolle und Überbehütung können Bindungsprobleme verursachen.

Merkmale überbehütender Erziehung:

  • Eltern lassen dem Kind keine eigenen Entscheidungen oder Erfahrungen.
  • Das Kind wird ständig vor allen Risiken und Herausforderungen „beschützt“.
  • Es wird nie allein gelassen, um Selbstständigkeit zu entwickeln.

Solche Kinder können später Schwierigkeiten haben, sich emotional zu lösen oder eigene soziale Beziehungen zu gestalten.


7. Stress in der Schwangerschaft und frühe Geburt

Neuere Forschungen zeigen, dass auch früher Stress in der Schwangerschaft oder eine Frühgeburt die Bindungsfähigkeit eines Kindes beeinflussen kann.

Mögliche Ursachen:

  • Hoher mütterlicher Stress in der Schwangerschaft (z. B. durch Gewalt, Armut oder psychische Belastungen).
  • Trennung von der Mutter direkt nach der Geburt (z. B. durch medizinische Komplikationen).

Diese Kinder zeigen später manchmal höhere Stressanfälligkeit, emotionale Unsicherheit oder Überempfindlichkeit in Beziehungen.


Welche Formen von Bindungsstörungen gibt es?

Die ICD-10 und DSM-5 unterscheiden zwischen zwei Hauptformen der Bindungsstörung:

1. Reaktive Bindungsstörung (F94.1, „gehemmte Form“)

Kinder mit einer reaktiven Bindungsstörung sind oft extrem zurückhaltend, ängstlich und misstrauisch gegenüber anderen Menschen.

Typische Anzeichen:

  • Kaum oder gar kein emotionaler Austausch mit Bezugspersonen
  • Stark gehemmt in sozialen Situationen
  • Meiden körperliche Nähe oder reagieren ängstlich auf Berührungen
  • Zeigen wenig Interesse an anderen Menschen
  • Schwierigkeiten, Trost anzunehmen

Diese Kinder haben früh gelernt, dass Nähe unsicher oder bedrohlich ist und halten Menschen auf Abstand.

2. Enthemmte Bindungsstörung (F94.2, „wahllose Bindung“)

Kinder mit dieser Form der Bindungsstörung zeigen keine stabile Bezugspersonenbindung, sondern wenden sich wahllos fremden Erwachsenen zu.

Typische Anzeichen:

  • Ungehemmtes, distanzloses Verhalten gegenüber Fremden
  • Kein gesundes Misstrauen oder Zurückhaltung gegenüber unbekannten Menschen
  • Häufige Wechsel der Bezugspersonen ohne erkennbare Bindung
  • Schwierigkeiten, verlässliche emotionale Beziehungen aufzubauen

Diese Kinder haben oft gelernt, dass Bindungspersonen nicht zuverlässig sind und suchen daher unkontrolliert Nähe bei jedem, der verfügbar ist.


Wie kann man Kindern mit Bindungsstörungen helfen?

Bindungsstörungen sind tief verwurzelte Probleme, die nicht durch einfache Maßnahmen gelöst werden können. Dennoch gibt es einige Wege, wie Eltern, Pflegeeltern, Lehrer:innen oder Therapeut:innen betroffene Kinder unterstützen können.

1. Verlässlichkeit und Stabilität bieten

Kinder mit Bindungsstörungen haben gelernt, dass Bezugspersonen nicht zuverlässig sind. Deshalb ist es entscheidend, dass sie jetzt eine verlässliche, beständige Beziehung erleben.

Feste Routinen schaffen: Kinder fühlen sich sicherer, wenn sie wissen, was sie erwartet. Rituale wie ein regelmäßiges Gutenacht-Ritual oder gemeinsame Mahlzeiten helfen.
Ankündigungen und Erklärungen geben: Plötzliche Veränderungen können Angst auslösen. Erkläre immer, was als Nächstes passiert.
Kleine Versprechen halten: Sag nur Dinge, die du wirklich einhalten kannst.

Botschaft an das Kind: „Ich bin für dich da. Du kannst mir vertrauen.“


2. Geduldig sein – Bindung braucht Zeit

Bindungsstörungen entstehen über Jahre – und sie verschwinden nicht von heute auf morgen. Die Kinder brauchen oft viele positive Beziehungserfahrungen, bevor sie beginnen, Vertrauen zu fassen.

Nicht entmutigen lassen, wenn das Kind zurückhaltend oder misstrauisch bleibt.
Das Kind nicht bedrängen – es entscheidet selbst, wann es Nähe zulässt.
Akzeptieren, dass Fortschritte langsam passieren – Bindung wächst Schritt für Schritt.

Erwartungshaltung: „Das Kind braucht Zeit, um zu lernen, dass Beziehungen sicher sind.“


3. Emotionale Co-Regulation unterstützen

Kinder mit Bindungsstörungen haben oft große Schwierigkeiten, ihre Emotionen zu regulieren. Sie können entweder sehr distanziert und zurückhaltend sein oder extreme Wutausbrüche und Ängste zeigen.

Gefühle benennen: „Ich sehe, dass du gerade traurig/wütend bist.“
Ruhig bleiben, auch wenn das Kind eskaliert.
Dem Kind helfen, seine Emotionen anzunehmen, anstatt sie zu unterdrücken.

Ziel: Das Kind lernt, dass seine Emotionen normal sind und dass es Strategien gibt, mit ihnen umzugehen.


4. Körperliche Nähe behutsam anbieten

Manche Kinder mit Bindungsstörungen lehnen körperliche Nähe ab, weil sie mit Berührungen schlechte Erfahrungen gemacht haben. Andere suchen Nähe auf eine unangemessene Weise (z. B. wahlloses Umarmen von Fremden).

Das Kind niemals zu Nähe zwingen!
Kleine Gesten der Nähe anbieten – aber das Kind entscheiden lassen.
Alternative Bindungsangebote schaffen: Lächeln, freundliche Gesten, gemeinsame Zeit.

Wichtig: Jedes Kind hat ein eigenes Tempo. Manche brauchen Monate oder Jahre, um Berührungen zuzulassen.


5. Klare, liebevolle Grenzen setzen

Kinder mit Bindungsstörungen haben oft Schwierigkeiten, Regeln zu akzeptieren oder angemessen auf Autorität zu reagieren. Sie haben gelernt, dass Erwachsene entweder unzuverlässig oder bedrohlich sind.

Regeln sollten immer klar, verständlich und vorhersehbar sein.
Strafen vermeiden – stattdessen liebevoll Konsequenzen erklären.
Grenzen mit Geduld und ohne Drohungen durchsetzen.

Botschaft an das Kind: „Ich bin für dich da – aber ich lasse auch nicht alles zu.“


6. Das Selbstwertgefühl des Kindes stärken

Viele Kinder mit Bindungsstörungen haben ein negatives Selbstbild. Sie glauben, dass sie nicht liebenswert oder nicht gut genug sind.

Ermutigung statt Kritik: Konzentriere dich auf kleine Fortschritte.
Erfolgserlebnisse ermöglichen: Das Kind braucht Aufgaben, die es selbstständig bewältigen kann.
Das Kind nicht ständig korrigieren: Negative Rückmeldungen verstärken das unsichere Selbstbild.

Botschaft: „Du bist wertvoll – genauso wie du bist.“


7. Professionelle Hilfe in Anspruch nehmen

In schweren Fällen ist es sinnvoll, psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Bindungsstörungen sind tief verankert und können nicht immer allein durch das soziale Umfeld überwunden werden.

Mögliche Therapieansätze:
Bindungsorientierte Therapie: Fördert die sichere Bindung zwischen Kind und Bezugsperson.
Traumatherapie: Besonders wichtig, wenn das Kind Missbrauch oder Gewalt erlebt hat.
Spieltherapie: Unterstützt Kinder dabei, über ihre Emotionen und Erfahrungen zu sprechen.

Wichtig: Therapie ist kein Zeichen von Versagen – sondern ein wichtiger Schritt zur Heilung.


Fazit: Bindungsstörungen sind herausfordernd – aber nicht unüberwindbar

Kinder mit Bindungsstörungen haben oft schwierige Startbedingungen erlebt. Doch mit viel Geduld, Verlässlichkeit und therapeutischer Unterstützung können sie nach und nach lernen, wieder Vertrauen zu fassen.

Die wichtigste Botschaft für alle, die mit betroffenen Kindern arbeiten:
Bindung braucht Zeit – aber jedes Kind kann sichere Beziehungen lernen, wenn es die richtigen Bedingungen bekommt.

Links & Literatur

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert