Schreikinder – Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten

Schreikind

Im Artikel Über Schreikinder und andere Regulationsstörungen gab es bereits einige grundlegende Informationen zu Regulationsstörungen. In diesem Artikel geht es nun noch mal im Detail um eine der drei häufigsten Regulationsstörungen, dem exzessiven Schreien.

Wie exzessives Schreien definiert wird und welche Ursachen dem Schreien zugrundeliegen, wird im Folgenden näher erläutert. Außerdem werden Behandlungsmöglichkeiten genannt, die genau auf die Situation von Schreikindern bzw. deren Eltern zugeschnitten sind.

Wann spricht man von einem Schreikind?

Es gibt drei Merkmale, durch die Schreikinder bzw. ein exzessives Schreien bei Babys gekennzeichnet sind (Ziegler, Wollwerth de Chuquisengo & Papoušek, 2004):

1. Das Schreien

Bei ansonsten gesunden Babys gilt die Dreierregel nach Wessel: Das Baby schreit oder weint mehr als 3 Stunden täglich, an mindestens 3 Tagen der Woche, und das über mindestes 3 Wochen.

Was aber noch wichtiger ist: Dieses Schreien ist nahezu unstillbar, das Baby ist mit den üblichen Methoden kaum zu beruhigen. Das Schreien steigt im Tagesverlauf immer mehr an und hat seinen Höhepunkt in den Abendstunden.

Schreikinder sind leicht irritierbar, schwer zu trösten und sie haben große Probleme damit, ihren Schlaf-Wach-Rhythmus zu regulieren. Dazu gehört auch, dass sie im wachen Zustand häufig überreizt und unruhig sind.

Selbst wenn sie übermüdet sind, finden Schreikinder nur schlecht in den Schlaf. Der Tagschlaf von Schreikindern ist ziemlich unregelmäßig und im Laufe des Tages baut sich bei ihnen ein immer größeres Schlafdefizit auf. Der Nachtschlaf hingegen ist eher unauffällig.

2. Eltern-Kind-Interaktion

Das Zusammenspiel zwischen Eltern und Kind leidet unter den häufig fehlschlagenden Beruhigungsversuchen und dem permanenten Herumtragen des Babys. Wenn das Baby auf dem Arm unruhig ist, weint oder sich durchstreckt, setzen die Eltern oft ein anderes Mittel zur Beruhigung ein.

Tatsächlich findet dadurch eine (erneute) Überstimulation des Babys statt. Das Baby weint weiterhin, die Eltern probieren ihr Glück wieder mit einem neuen Mittel – ein Teufelskreis entsteht: Die Anspannung des Babys überträgt sich auf die Eltern, durch das teils unsichere, wechselhafte Verhalten der Eltern überträgt sie sich wieder aufs Baby, usw.

3. Überlastung der Eltern

Da die Eltern permanent unter Anspannung stehen, kann es zu einer Überlastung kommen. Neben der Anspannung tragen auch der fehlende Schlaf, die chronische Erschöpfung, der Frust und die Verunsicherung sowie die reizbare Stimmungslage zu einer Überlastung bei.

Die Bezugspersonen fühlen sich oft unfähig, ihr eigenes Baby zu beruhigen. Daraus können sich Selbstzweifel und Versagensgefühle entwickeln, die wiederum zu Wut oder auch Depressionen führen können.

Ursachen des exzessiven Schreiens

Als Ursachen kommen einerseits genetische Voraussetzungen des Babys oder auch belastende psychosoizale Faktoren auf Seiten der Eltern infrage. Am häufigsten scheint aber eine vorübergehende (neuromotorische) Unreife des Babys der Grund für das übermäßige Schreien zu sein (Ziegler et al., 2004).

Pädiatrische Störungsbilder, also spezifische (Grund-)Erkrankungen des Kindes, sind nur bei 5-10 % aller Babys der Grund für das exzessive Schreien (Lehtonen, Gormally & Barr, 2000). Dennoch sollte bei Schreikindern überprüft werden, ob eine körperliche Ursache zu dem exzessiven Schreien führt.

Dazu gehören z.B. eine Lactoseintoleranz, ein gastroösophagealer Reflux (wenn Magensäure zurück in die Speiseröhre fließt) oder Funktionsstörungen im Bereich der Halswirbelsäule, auch bekannt unter dem Begriff KISS-Syndrom (Lehtonen et al., 2000; von Hofacker, Papoušek, Jacubeit & Malinowski, 1999; Ziegler et al., 2004).

Wie im Übersichtsartikel zu Regulationsstörungen beschrieben wurde, sind auch die kindlichen und elterlichen Voraussetzungen sowie die Eltern-Kind-Interaktion relevante Faktoren. Je mehr Belastungen in diesen Bereichen auftreten, umso eher kann sich beim Baby ein exzessives Schreien entwickeln.

Wie entwickeln sich Schreikinder langfristig?

Hat die Familie genügend Ressourcen, um dem Schreien zu begegnen, nimmt das Schreien nach ca. 3 Monaten quasi “von alleine” ab. Mit jedem Entwicklungsschub, den das Baby macht, hat es mehr und mehr Möglichkeiten, sich besser zu regulieren und seine Unreife zu überwinden.

Bei fehlenden Ressourcen innerhalb oder außerhalb der Familie kann es jedoch zu einer Eskalationsspirale kommen und die Probleme setzen sich auch über die ersten Lebensmonate des Babys hinweg noch fort.

Erste Untersuchungen zeigen, dass diese Kinder, wenn sie älter sind, ein höheres Risiko für emotionale Entwicklungsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens oder ADHS haben (Papoušek, Schieche & Wurmser, 2004; Wolke, Rizzo & Woods, 2002).

Schreikinder – Behandlungsmöglichkeiten

1. Behandlung des Kindes

Zunächst wird überprüft, ob es organische oder neurologische Gründe gibt, die zu dem exzessiven Schreien beim Baby führen. Wenn das Schreien vor allem wegen einer Unreife oder Dysfunktionen beim Baby auftritt, kommen als Behandlungsmöglichkeiten auch Ergo- bzw. Physiotherapie oder Osteopathie in Frage (Wollwerth de Chuquisengo & Papoušek, 2004).

2. Beratung und Entlastung der Eltern

Wie bei allen Regulationsstörungen steht jedoch die Beratung und Stärkung der Eltern (*) im Vordergrund. Dazu gehört einerseits, dass die Eltern im Alltag entlastet werden, z.B. durch Angehörige oder eine Haushaltshilfe. Andererseits sollen die Eltern so gestärkt werden, dass sie wieder an sich glauben und auf ihre intuitiven Kompetenzen als Eltern vertrauen.

Als Grundlage für die Beratung dient häufig auch ein Schrei- und/oder Schlafprotokoll, dass die Eltern über einen gewissen Zeitraum führen. Damit können sie das Verhalten ihres Babys dokumentieren und man kann erkennen, ob es ein bestimmtes Muster im Schreiverhalten des Babys gibt.

Welche Punkte umfasst die Elternberatung (von Hofacker et al., 1999)?
  1. Förderliche Gestaltung des Schlaf-Wach-Rhythmus
  2. Beobachten und Verstehen der kindlichen Signale (Hunger, Müdigkeit, Überreiztheit)
  3. Übermüdung und Überreizung vermeiden (keine überstimulierenden Beruhigungsstrategien, kein ständiges „bei Laune halten“, Reizreduktion vor dem Einschlafen)
  4. Kein Schütteln des Babys bzw. Aufklärung über die Gefahren
  5. Auszeiten für die Bezugsperson schaffen (z.B. Baby sicher ablegen und den Raum wechseln, um Anspannung oder Ärger abzubauen)

Fazit

Die Ausführungen liefern eingehende Einblicke in das Thema exzessives Schreien bei Babys und zeigen die verschiedenen Aspekte dieses herausfordernden Phänomens auf. Die Definition eines Schreikinds verdeutlicht die Intensität und Hartnäckigkeit des Schreiens, welches zudem oft mit Schwierigkeiten bei der Beruhigung des Babys und der Regulierung seines Schlaf-Wach-Rhythmus einhergeht.

Die Wechselwirkung zwischen Eltern und Kind wird als entscheidender Faktor genannt, wobei erfolglose Beruhigungsversuche zu einem Teufelskreis führen können. Die Überlastung der Eltern, sowohl physisch als auch emotional, stellt einen weiteren kritischen Punkt dar, der zu Selbstzweifeln, Frustration und sogar Depressionen führen kann.

Die Ursachen des exzessiven Schreiens werden vielschichtig betrachtet, wobei genetische Voraussetzungen, psychosoziale Faktoren und vorübergehende Unreife des Babys als mögliche Auslöser identifiziert werden. Die langfristige Entwicklung von Schreikindern zeigt, dass fehlende Ressourcen innerhalb oder außerhalb der Familie zu einer Eskalationsspirale führen können, mit potenziellen Risiken für emotionale und soziale Entwicklungsstörungen.

In Bezug auf die Behandlungsmöglichkeiten werden nicht nur medizinische Interventionen für das Baby, sondern vor allem auch die Beratung und Entlastung der Eltern hervorgehoben. Die Bedeutung der Elternberatung, einschließlich der Förderung eines gesunden Schlaf-Wach-Rhythmus, der Beobachtung kindlicher Signale und der Vermeidung von Überreizung, unterstreicht den ganzheitlichen Ansatz zur Bewältigung von Regulationsstörungen.

Insgesamt liefert der Artikel wichtige Informationen für Eltern und Fachleute, um das exzessive Schreien von Babys besser zu verstehen und adäquate Maßnahmen zur Unterstützung sowohl des Babys als auch der Eltern umzusetzen.

Literatur & Links

Lehtonen, L., Gormally, S., & Barr, R. G. (2000). “Clinical pies” for etiology and outcome in infants presenting with early increased crying. In R. G. Barr & B. Hopkins & J. A. Green (Eds.), Crying as a sign, a symptom and a signal: Clinical, emotional and developmental aspects of infant and toddler crying (pp. 67-95). London, UK: Mac Keith Press.

Papoušek, M., Schieche, M., & Wurmser, H. (Hrsg.) (2004). Regulationsstörungen der frühen Kindheit: Frühe Risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen (pp. 77-110). Bern: Huber.

Von Hofacker, N., Papoušek, M., Jacubeit, T., & Malinowski, M. (1999). Rätsel der Säuglingskoliken: Ergebnisse, Erfahrungen und therapeutische Interventionen aus der “Münchner Sprechstunde für Schreibabies”. Monatsschrift fur Kinderheilkunde, 147, 244-253.

Wolke, D., Rizzo, P., & Woods, S. (2002). Persistent infant crying and hyperactivity problems in middle childhood. Pediatrics, 109, 1054-1060.

Wollwerth de Chuquisengo, R., & Papoušek, M. (2004). Das Münchner Konzept einer kommunikationszentrierten Eltern-Säuglings-/Kleinkind-Beratung und -Psychotherapie. In M. Papoušek & M. Schieche & H. Wurmser (Eds.), Regulationsstörungen der frühen Kindheit: Frühe Risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen (pp. 281-309). Bern: Huber.

Ziegler, M., Wollwerth de Chuquisengo, R., & Papoušek, M. (2004). Exzessives Schreien im frühen Säuglingsalter. In M. Papoušek & M. Schieche & H. Wurmser (Eds.), Regulationsstörungen der frühen Kindheit: Frühe Krisen und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen. Bern: Huber.

https://www.tk.de/techniker/magazin/life-balance/familie/bindung-macht-babys-stark/schreikind-unstillbares-schreien-2016468

https://www.papa.de/schreibaby-hilfe-fuer-betroffene-familien/#

https://www.aerztezeitung.at/archiv/oeaez-2017/oeaez-8-25042017/schreikinder-schreisymptomatik-univ-prof-kathrin-sevecke-univ-prof-wolfgang-sperl-christa-wienerroither-christine-sonn-rankl.html




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