Immer auf der Flucht – Warum Trebegänger nicht bleiben wollen

Trebegänger

Ein Jugendlicher kommt neu in eine Einrichtung, bleibt ein paar Tage – und ist plötzlich weg. Nach kurzer Zeit wird er von der Polizei zurückgebracht, nur um wenig später wieder zu verschwinden. Ein Muster, das sich wiederholt, oft über Wochen oder Monate. Für Außenstehende mag es unverständlich erscheinen: Warum laufen Jugendliche, die doch eigentlich Hilfe bekommen sollen, immer wieder davon? Was treibt Trebegänger an? Und warum scheint sie nichts davon abzuhalten?

Trebegänger bewegen sich zwischen Freiheitsdrang und Fluchtverhalten

Wenn Jugendliche immer wieder aus Einrichtungen weglaufen, scheint es auf den ersten Blick irrational: Sie haben ein Dach über dem Kopf, Essen, Betreuung – warum also ziehen sie die Straße oder das Ungewisse vor? Doch hinter diesem Verhalten steckt oft eine tiefe Geschichte, geprägt von negativen Erfahrungen, ungelösten Konflikten und fehlenden Alternativen.

Trebegänger sind keine Jugendlichen, die einfach nur „rebellieren“. Vielmehr ist ihr Verhalten oft die Folge einer Entwicklung, in der sie gelernt haben, dass Weglaufen die einzige Strategie ist, mit schwierigen Situationen umzugehen.

Die Gründe, warum Jugendliche Trebegänger werden, sind vielfältig. Häufig spielen diese Faktoren eine Rolle:

  1. Frühe Bindungsabbrüche und unsichere Beziehungen
    Ein zentraler Faktor, der viele Trebegänger verbindet, ist das Fehlen stabiler und verlässlicher Bindungen. Viele dieser Jugendlichen haben in ihrer Kindheit Erfahrungen gemacht, die ihr Vertrauen in andere Menschen nachhaltig erschüttert haben.
    • Wechselnde Bezugspersonen: Pflegefamilien, Heimunterbringungen, häufige Umzüge – wenn ein Kind ständig seine wichtigsten Bezugspersonen verliert, lernt es: Beziehungen sind nicht sicher, man kann sich auf niemanden verlassen.
    • Vernachlässigung und emotionale Kälte: Wer von klein auf erlebt, dass seine Bedürfnisse ignoriert werden, entwickelt oft eine emotionale Schutzstrategie: Bloß keine Nähe zulassen, um nicht wieder enttäuscht zu werden.
    • Gewalt und Missbrauchserfahrungen: In einigen Fällen haben Trebegänger körperliche oder psychische Gewalt erlebt. Einrichtungen oder Regeln, die sie an diese Erfahrungen erinnern, können den Drang auslösen, sofort zu fliehen – auch wenn keine akute Bedrohung besteht.
  2. Misstrauen gegenüber dem Hilfesystem
    Viele Trebegänger haben bereits eine lange Geschichte in der Jugendhilfe. Sie kennen Heime, Wohngruppen, Sozialarbeiter – und haben oft das Gefühl, dass sich für sie nichts wirklich verbessert.
    • Erfahrungen mit Fremdbestimmung: Immer wieder erleben diese Jugendlichen, dass über ihren Kopf hinweg entschieden wird – wo sie leben, welche Regeln sie befolgen müssen, wann sie umziehen müssen. Das Gefühl, keine Kontrolle über das eigene Leben zu haben, verstärkt den Wunsch, sich dieser Situation zu entziehen.
    • Enttäuschungen durch das System: Manche Jugendliche wurden bereits von einer Einrichtung in die nächste weitergereicht, ohne dass ihre Probleme wirklich verstanden wurden. Wenn sie das Gefühl haben, dass es „eh nichts bringt“, sehen sie keinen Grund, zu bleiben.
    • Fehlendes Vertrauen in Erwachsene: Wer gelernt hat, dass Erwachsene unzuverlässig sind, sieht auch Betreuer oft nicht als echte Bezugspersonen. Stattdessen erwarten viele, dass sie irgendwann ohnehin wieder verlassen oder enttäuscht werden – und nehmen den Abbruch der Beziehung lieber selbst in die Hand.
  3. Ablehnung von Regeln und Strukturen
    Einrichtungen haben feste Abläufe: Essenszeiten, Hausregeln, Schulpflicht, Ausgangszeiten. Für viele Jugendliche ist das kein Problem – für Trebegänger jedoch oft unerträglich.
    • Gefühl der Eingesperrtheit: Auch wenn es objektiv keine „Gefangenschaft“ ist, empfinden viele Jugendliche Einrichtungen als einengend. Besonders, wenn sie in ihrem bisherigen Leben mehr Freiheit gewohnt waren, ist der Kontrast schwer auszuhalten.
    • Schwierigkeiten mit Autorität: Viele Trebegänger haben in ihrer Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Autoritätspersonen gemacht. Regeln empfinden sie nicht als Schutz, sondern als eine erneute Kontrolle durch Erwachsene, die sie nicht respektieren.
    • Mangelnde Anpassungsfähigkeit: Strukturen geben Halt – aber nur, wenn man gelernt hat, mit ihnen zu leben. Jugendliche, die aus chaotischen oder instabilen Familien kommen, kennen oft keinen geregelten Tagesablauf und haben nie gelernt, sich in ein solches System einzufügen.
  4. Flucht als erlernte Bewältigungsstrategie
    Ein besonders wichtiger Punkt: Viele dieser Jugendlichen kennen gar keine andere Möglichkeit, mit Problemen umzugehen.
    • Frustrationsintoleranz: Wer nie gelernt hat, mit unangenehmen Gefühlen umzugehen, sucht den schnellsten Ausweg – und das ist in diesem Fall die Flucht.
    • Erfahrung mit „Kampf oder Flucht“: Manche Jugendliche haben in ihrer Kindheit regelmäßig erlebt, dass Konflikte eskalieren – durch Gewalt, Schreien oder Weglaufen. Sie haben nie gelernt, Dinge auszusitzen oder sich Hilfe zu holen, sondern nur, dass man entweder kämpfen oder fliehen muss.
    • Kurzfristiges Denken: Für viele Trebegänger zählt nur der Moment. Die langfristigen Konsequenzen ihrer Flucht – wie Polizeieinsätze, erneute Unterbringung oder instabile Lebensumstände – spielen in ihrem Entscheidungsprozess keine Rolle.
  5. Die Straße als „besserer“ Ort?
    So absurd es klingt: Manche Trebegänger fühlen sich auf der Straße oder in unsicheren Verhältnissen wohler als in einer betreuten Einrichtung.
    • Illusion von Freiheit: Kein Zwang, keine Regeln, niemand, der sagt, was man tun soll – für manche ist das attraktiver als ein strukturiertes Leben.
    • Soziale Zugehörigkeit: Einige Jugendliche schließen sich anderen Trebegängern oder Straßencliquen an und finden dort eine Form von Gemeinschaft, die sie in Einrichtungen nicht erleben.
    • Selbstüberschätzung: Viele Trebegänger unterschätzen die Gefahren, die ein Leben ohne festen Wohnsitz mit sich bringt. Sie denken, dass sie alleine klarkommen – bis sie merken, dass das oft nicht so einfach ist.

Warum kommen sie immer wieder zurück – nur um erneut abzuhauen?

Ein paradoxes Muster: Viele Trebegänger kehren immer wieder in die Einrichtung zurück – oft aus eigener Initiative oder weil sie von der Polizei aufgegriffen wurden. Doch kaum sind sie wieder da, halten sie es nur wenige Tage oder Stunden aus, bevor sie erneut fliehen. Warum?

Hier spielen zwei widersprüchliche Bedürfnisse eine Rolle: Einerseits der Wunsch nach Sicherheit – gerade für Jugendliche, die auf der Straße kaum zurechtkommen. Andererseits das Bedürfnis nach absoluter Unabhängigkeit, die sie in einer Einrichtung nicht haben. Dieser innere Zwiespalt führt dazu, dass viele Trebegänger zwischen Ankommen und Flucht hin- und herpendeln.

Hinzu kommt, dass manche von ihnen durch das Weglaufen Aufmerksamkeit erzeugen – eine Form der (negativen) Selbstbestätigung. Andere testen Grenzen aus oder haben die Hoffnung, dass man sie irgendwann einfach „gehen lässt“.

Ideen für den Umgang mit Trebegängern

Die klassische Jugendhilfe stößt bei Trebegängern oft an ihre Grenzen. Die üblichen Methoden – Gespräche, Regeln, Konsequenzen – funktionieren bei diesen Jugendlichen kaum. Stattdessen sind kreative, unkonventionelle Ansätze gefragt:

1. Vertrauen statt Zwang – Beziehungen als Basis für Veränderung

Der erste und wichtigste Punkt: Ein Trebegänger wird nur dann bleiben, wenn er Vertrauen fasst. Viele von ihnen haben erlebt, dass Erwachsene unzuverlässig, enttäuschend oder sogar gefährlich sind. Sie lassen sich nicht einfach durch Regeln oder Sanktionen kontrollieren – das verstärkt oft nur ihren Widerstand.

Was hilft?

  • Geduld und Konsequenz im Beziehungsaufbau: Diese Jugendlichen testen Grenzen, weil sie wissen wollen, ob jemand wirklich bleibt. Sie brauchen Bezugspersonen, die sie nicht sofort aufgeben – auch wenn sie sich immer wieder entziehen.
  • Kein Druck, aber Verlässlichkeit: Wer einen Trebegänger mit Verboten oder Drohungen zum Bleiben zwingen will, erreicht meist das Gegenteil. Stattdessen hilft es, zu signalisieren: Ich bin da, auch wenn du gehst. Und ich bin wieder da, wenn du zurückkommst.
  • Ein echtes Interesse am Jugendlichen: Trebegänger spüren schnell, wenn jemand nur „Dienst nach Vorschrift“ macht. Sie brauchen Menschen, die sich wirklich für sie interessieren – nicht nur als „Problemfall“, sondern als Person mit Stärken, Träumen und Ängsten.

2. Autonomie ermöglichen – Kontrolle zurückgeben

Viele Trebegänger empfinden das Leben in einer Einrichtung als erdrückend. Sie haben oft das Gefühl, keine Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben – und wehren sich mit dem einzigen Mittel, das ihnen bleibt: Flucht.

Was hilft?

  • Mehr Mitspracherecht in Entscheidungen: Statt den Jugendlichen einfach in eine neue Einrichtung zu stecken, sollte man ihn mitentscheiden lassen. Welche Wohnform fühlt sich für ihn passend an? Welche Regeln sind für ihn akzeptabel?
  • Alternativen zum klassischen Heimalltag: Strenge Strukturen sind für viele Trebegänger nicht der richtige Weg. Flexiblere Wohnmodelle (z. B. betreutes Einzelwohnen oder kleinere Gruppen mit weniger Vorschriften) könnten besser funktionieren.
  • Erfolgserlebnisse schaffen: Wer nie das Gefühl hatte, sein Leben selbst beeinflussen zu können, braucht neue Erfahrungen, die ihm das Gegenteil zeigen – sei es durch kleine eigene Entscheidungen oder durch Projekte, bei denen er Verantwortung übernehmen kann.

3. Neue Bewältigungsstrategien erlernen

Viele Trebegänger laufen weg, weil sie nie gelernt haben, mit Konflikten oder Frustration anders umzugehen. Sie brauchen gezielte Unterstützung, um neue Wege zu entdecken.

Was hilft?

  • Training zur Emotionsregulation: Viele dieser Jugendlichen sind nicht in der Lage, Stress oder Wut auszuhalten. Sie brauchen Methoden, um mit schwierigen Gefühlen umzugehen – zum Beispiel über Sport, kreative Ausdrucksformen oder gezieltes Skill-Training.
  • Konfliktbewältigung üben: Oft fliehen Trebegänger, weil sie keine andere Lösung für einen Streit oder eine belastende Situation kennen. In geschützten Settings könnte man mit ihnen trainieren, wie sie sich in Konflikten behaupten können, ohne zu fliehen.
  • Langfristige Perspektiven aufzeigen: Viele Trebegänger denken nur im Moment. Sie brauchen konkrete Zukunftsperspektiven, die ihnen zeigen: Es lohnt sich, zu bleiben. Das kann eine Ausbildung sein, ein Hobby, das ihnen wirklich Spaß macht, oder ein realistischer Plan für ein eigenständiges Leben.

4. Keine pauschalen Maßnahmen – individuelle Lösungen finden

Jeder Trebegänger hat seine eigene Geschichte. Eine Standardlösung gibt es nicht – und genau das ist das Problem vieler Jugendhilfemaßnahmen.

Was hilft?

  • Den Jugendlichen wirklich kennenlernen: Was treibt ihn an? Was mag er, was lehnt er ab? Welche früheren Erfahrungen haben ihn geprägt? Erst wenn man diese Fragen beantwortet, kann man eine passende Unterstützung entwickeln.
  • Kreative Ansätze nutzen: Nicht jeder Trebegänger braucht eine stationäre Einrichtung. Manche kommen mit einer betreuten WG besser zurecht, andere könnten durch ein intensives Mentoring-Programm aufgefangen werden.
  • Flexibilität statt starre Strukturen: Statt mit dem immer gleichen Maßnahmenkatalog zu arbeiten, sollten Helfer bereit sein, sich auf den jeweiligen Jugendlichen einzulassen und auch unkonventionelle Wege zu gehen.

5. Beziehung statt Bestrafung – mit dem Jugendlichen arbeiten, nicht gegen ihn

Ein Trebegänger wird nicht durch Strafen oder Kontrolle „geheilt“. Er wird nur dann aufhören zu fliehen, wenn er spürt, dass es sich lohnt, zu bleiben. Das bedeutet: Er muss sich sicher fühlen, er muss Mitspracherecht haben, und er muss eine echte Alternative zur Flucht sehen.

Was hilft am meisten?

  • Langfristige, verlässliche Beziehungen: Kein Jugendlicher vertraut sofort. Es braucht Zeit, Konstanz und Menschen, die nicht bei der ersten Flucht aufgeben.
  • Einen individuellen Weg ermöglichen: Nicht jeder Trebegänger passt in ein Heim. Manche brauchen Alternativen – sei es eine Pflegefamilie, ein betreutes Wohnprojekt oder eine andere, flexiblere Lösung.
  • Den Jugendlichen ernst nehmen: Wer immer nur als „Problemfall“ gesehen wird, wird sich auch so verhalten. Ein Trebegänger muss erleben, dass jemand ihn nicht nur als schwierigen Fall, sondern als Mensch mit Potenzial sieht.

Fazit: Ein System, das nicht für sie gemacht ist?

Trebegänger passen oft nicht in das bestehende Jugendhilfesystem. Sie sind nicht einfach „rebellisch“ oder „auffällig“ – sondern sie haben Mechanismen entwickelt, die für sie überlebenswichtig sind. Statt sie mit starren Regeln zum Bleiben zu zwingen, müsste die Jugendhilfe sich fragen: Wie können wir ein System schaffen, in dem diese Jugendlichen bleiben wollen?

Links & Literatur

www.springermedizin.de/emedpedia/detail/psychiatrie-und-psychotherapie-des-kindes-und-jugendalters/notfaelle-in-der-kinder-und-jugendpsychiatrie?epediaDoi=10.1007%2F978-3-662-49289-5_129

www.publikationen.ub.uni-frankfurt.de/opus4/files/5593/00000130.pdf

Petermann, F., & Wiedebusch, S. (2016). Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen: Grundlagen, Diagnostik, Interventionen. Hogrefe Verlag.

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