Selektiver Mutismus – wenn es Kindern „die Sprache verschlägt“ (Gastbeitrag)

Gastbeitrag von Theresa, Sozialpädagogin

selektiver Mutismus

Wenn Kinder in bestimmten Situationen plötzlich verstummen, kann mehr als nur Schüchternheit dahinterstecken.

Neben dem häufig vermuteten Autismus kann auch der selektive Mutismus die Ursache sein. Selektiver Mutismus bedarf allerdings einer klaren Abgrenzung zu (frühkindlichem) Autismus oder einer „einfachen Schüchternheit“.

Der folgende Artikel soll dabei helfen, das Phänomen des selektiven Mutismus besser zu verstehen. Das frühzeitige Erkennen dieses Störungsbildes trägt dazu bei, dass dem lautlosen Verhalten – mit Hilfe von Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten – frühzeitig entgegengewirkt werden kann.

Definition und Symptome

Der Begriff „selektiver Mutismus“ hat seinen Ursprung im Lateinischen. „Mutus“ bedeutet so viel wie „stumm“, mit „selektiv“ ist „auswählend“ gemeint.

Selektiver Mutismus wird als eigenes Störungsbild unter einer Angststörung aufgeführt. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass Kinder in gewissen Situationen unerwartet in konsequentes Schweigen verfallen, obwohl sie über die sprachlichen Kompetenzen verfügen. In der Regel treten die ersten Anzeichen im Kita- und Vorschulalter auf, wobei die Störung ein schleichender Prozess ist.

Mutistische Kinder sind häufig generell sehr zurückhaltend, ängstlich und vorsichtig, insbesondere vor ihnen fremden Umständen. Interaktionen stellen für betroffene Kinder eine immense Herausforderung dar. Auf vermeintlich “einfache” Fragen, Begrüßungen oder Abschiede zu reagieren, bedeutet für Betroffene ein schier unmöglich zu überwindendes Hindernis.

Oft ist zu beobachten, dass das Kind nicht nur die Sprache einstellt, sondern dass auch die Körperhaltung und Mimik wie „versteinert“ wirkt. Im vertrauten Umfeld kommunizieren die Kinder allerdings unauffällig oder sogar vermehrt. [1]

Unterscheidung zwischen „selektivem Mutismus“, „Schüchternheit“ und „Autismus“

Aber wie erkenne ich jetzt, ob das Kind „nur“ schüchtern ist oder ob dem Ganzen mehr zugrunde liegt?

Folgende Punkte können bei der Unterscheidung helfen:

1. Schüchternheit

  • Das Kind kann sich zumindest mitteilen, wenn es sich in bestimmten Situationen unwohl fühlt. Es sucht sich meist selbst Möglichkeiten, mit unangenehmen Situationen umzugehen (sucht sich vertraute Personen, versucht sich einzugewöhnen, etc.).
  • Auf Interaktionsversuche von unbekannten Personen reagiert das Kind zumindest mit einem Nicken oder einer einsilbigen Antwort.
  • Generell ist es möglich, eine Reaktion bei dem Kind hervorzurufen. Bei schüchternen Kindern erfolgt die Antwort oftmals mit ein wenig Geduld.

2. Autismus

  • Es handelt sich um keine Angsterkrankung.
  • Autismus beeinflusst die Art und Weise zu denken, zu fühlen und zu erleben, wobei hierbei keine Unterscheidung zwischen Situationen und Menschen vorgenommen wird.
  • Wird häufig bereits in den ersten Lebensmonaten des Kindes festgestellt. Denn: frühkindlicher Autismus hat häufig auch Auswirkungen auf das Bindungsverhalten zu den Eltern.
  • Autistische Kinder können sich i.d.R. abwehrend gegenüber Reizen aus ihrer Umgebung verhalten. Als Strategie wird hierbei oft stimulierendes Verhalten angewandt, um sich von dem herausfordernden Moment abzulenken.
  • Eine emotionale Kontaktaufnahme, auch zu vertrauten Bezugspersonen, ist häufig nur bedingt möglich.

 3. Selektiver Mutismus

  • Psychisch bedingte Kontakt-, Kommunikations- und Angststörung.
  • Das Kind ist trotz theoretisch altersentsprechender Sprachkompetenz nicht in der Lage, sich in bestimmten Situationen (Schule/Kita, etc.) mitzuteilen, auch wenn bereits eine lange Zeit der Eingewöhnung stattgefunden hat.
  • Anders als bei schüchternen Kindern gelingt es mutistischen Kindern nicht, aktiv Umgangsstrategien für sich zu erarbeiten.
  • Während eines Gesprächs neigt das Kind dazu direkt zu verstummen, wenn eine andere Person zuhört.
  • Mimik und Körperhaltung können schlagartig ausdruckslos werden. Nur in den seltensten Fällen ist eine nonverbale Kommunikation möglich.
  • Das Kind „selektiert“ unbewusst, ob es in einer Situation die Sprechangst überwinden kann.

Ursachen

Es existiert nicht die eine Ursache für selektiven Mutismus. Meist kommen mehreren Faktoren zusammen.

Grundsätzlich liegt selektiver Mutismus einer komplexen Angststörung zugrunde. Die Ursachen für Angststörungen lassen sich auch auf das Störungsbild des selektiven Mutismus übertragen.

Behandlungs- bzw. Unterstützungsmöglichkeiten

Die gute Nachricht vorab:

Selektiver Mutismus gilt als Störungsbild, welches als „überwindbar“ bewertet wird. Je früher es erkannt wird, desto besser sind die Chancen auf grundlegende Besserung.

Bei Verdacht auf selektiven Mutismus empfiehlt sich die Durchführung einer Beratung/Diagnostik, die in der Regel der Kinderarzt vornehmen kann. Auch Kinderpsychologen oder Sozialpädiatrische Zentren sind gute Anlaufstellen, in denen ihr Unterstützung erhalten könnt.

Wichtig ist es, die Symptome/Ursachen frühzeitig professionell zu erkennen und zu therapieren. Damit kann verhindert werden, dass sich das Störungsbild bis in das Erwachsenenalter festigt. Außerdem können weitere Folgeerscheinungen, wie beispielsweise Depressionen oder soziale Isolation vermieden werden. [2, 3]

Wie könnt ihr als Eltern oder Bezugspersonen unterstützen?

Wichtig zu verstehen ist, dass selektiv-mutistisches Verhalten nicht mit Absicht erfolgt. Oft steckt für das Kind ein hoher Leidensdruck dahinter.

Hilfreiche Möglichkeiten bestehen darin,

  • das Kind nicht zusätzlich unter Druck zu setzen.
  • die Stärken, Fähigkeiten, Ressourcen hervorzuheben, um das Selbstvertrauen zu stärken.
  • Verständnis zu zeigen. Das Kind stellt das Sprechen nicht aus Spaß ein.
  • das Kind nicht extra in den Mittelpunkt zu stellen. Es könnte sich dadurch bloßgestellt fühlen.
  • dem Kind Aufgaben zuzutrauen, ohne es zu überfordern.
  • didaktisch mit dem Kind “zu arbeiten”. Bücher zum Thema “Schweigen” oder “Mutigsein” können dafür ein geeignetes Mittel darstellen. Gerade damit kann sich das Kind verstanden und ermutigt fühlen (z.B. “Mila spricht – ein Bilderbuch zum selektiven Mutismus” (*) oder “Selina Stummfisch” (*)).

Das Wichtigste: Bleibt geduldig mit euch und mit eurem Kind, schließlich ist es nicht “aussichtslos”: Es besteht eine große Chance auf Verbesserung!

Fazit

“Sprache ist der Schlüssel zur Welt” lautet ein berühmtes Zitat von Wilhelm von Humboldt. Sprache ist das sozial-gesellschaftliche Instrument, welches uns ermöglicht, uns und unser Inneres mitzuteilen und in die Interaktion zu treten. Doch was, wenn die Sprache ausbleibt?

Das kann alle Beteiligten vor eine große Herausforderung stellen.

Zeichnet sich ab, dass die Schüchternheit über ein Persönlichkeitsmerkmal hinausgeht und oben aufgeführte Symptome auf das Kind übertragbar sind, sollte das Verhalten genauer betrachtet werden.

Insbesondere wenn dadurch das Leben des Kindes stark beeinträchtigt wird, lohnt es sich professionelle Unterstützung zu suchen. Mit Aussagen wie “Das verwächst sich” oder “Das ist nur eine Phase” sollte man im Zusammenhang mit dem Verdacht auf selektiven Mutismus kritisch sein. In manchen Fällen empfiehlt es sich, lieber einmal genauer hinzusehen.

Literatur & Links

1 ICD11-Katalog der WHO; URL: https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http://id.who.int/icd/entity/167946871

2 MUTISMUS – BERATUNG (MBZ); URL: https://www.mutismus.net/

3 Mutismus-Therapie; URL: https://www.mutismus-therapie.de/



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Über die Autorin

Als ausgebildete Sozialarbeiterin begleitete und unterstützte Theresa psychisch erkrankten Eltern und Kinder. Sie schreibt über ihre Erfahrungen und teilt ihre Expertise zu Krankheits- und Störungsbildern aus ihrem beruflichen Alltag.

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