Über Schreikinder und andere Regulationsstörungen

Regulationsstörungen

Der Begriff “Schreikind” ist den meisten Eltern geläufig. Und Eltern sind eher froh darüber, wenn sie sagen können, dass ihr Kind nicht dazu gehört. Denn die Belastung durch ein permanent schreiendes Kind kann enorm sein.

Ununterbrochenes Schreien, aber auch (extreme) Schlaf– oder Fütterstörungen werden unter dem Begriff Regulationsstörungen zusammengefasst. Früher sagte man dazu auch Dreimonatskoliken. Diese Beschreibung beruht jedoch auf der Annahme, dass die Babys so viel schreien, weil sie Blähungen oder Bauchschmerzen haben. Heute weiß man, dass die Babys so viel Luft schlucken und Blähungen bekommen, gerade weil sie so viel schreien und weinen.

Der Begriff Regulationsstörung beschreibt jedoch ganz gut, worum es hier geht: Nämlich um die eingeschränkte Fähigkeit des Babys, sein Verhalten in unterschiedlichen Situationen angemessen zu regulieren.

Regulationsstörungen betreffen zwar überwiegend Kinder im Säuglingsalter, können sich aber auch noch bis ins Kleinkind- und Grundschulalter hineinziehen. Betrachtet man auch die größeren Kinder, können sich Regulationsstörungen auf folgende Art und Weise bemerkbar machen (Papoušek, 2005):

1. Exzessives Schreien
2. Schlafstörungen
3. Fütter-/Gedeihstörungen
4. Chronische Unruhe oder Spielunlust
5. Soziale Ängstlichkeit
6. Exzessives Klammern und Trotzen
7. Massive Trennungsängste
8. Oppositionell-aggressives Verhalten

Papoušek (2005, S.1) gibt hierzu einen guten Hinweis, der den Druck von den Eltern nehmen kann:

“Die kindlichen Verhaltensauffälligkeiten sind als solche nicht pathologisch, sondern stellen lediglich Extremausprägungen der normalen individuellen Variabilität dar, die jedoch erhöhte Anforderungen an die intuitiven elterlichen Kompetenzen stellen und die Eltern verunsichern.”

Man muss also nicht an seinem Kind oder an seiner Elternkompetenz zweifeln, wenn das Kind von einer Regulationsstörung betroffen ist. Es handelt sich hier zudem um Verhaltensmuster, die bei 15-30% aller Babys auftreten und damit relativ häufig sind (Papoušek, 2002).

Dennoch ist es sinnvoll, sich mit den Behandlungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen. Denn wenn die Eltern-Kind-Interaktion in Folge der Belastungen beeinträchtigt ist, wird auch der Aufbau einer sicheren Bindung zum Kind erschwert.

Wann spricht man von einer Regulationsstörung?

Klar ist, dass es bei fast jedem Baby im Laufe der Entwicklung Phasen gibt, in denen es häufiger schreit, schlechter schläft oder schlechter isst. Diese “Entwicklungsschübe” sind aber normalerweise von begrenzter Dauer, das heißt der Spuk ist nach einer gewissen Zeit vorbei.

Anders bei Regulationsstörungen: Dort ist es gewissermaßen ein Dauerzustand, dass das Baby schreit oder es Probleme mit dem Schlafen oder Füttern gibt.

Die Eltern sind also permanent damit beschäftigt, das Baby zu beruhigen oder eine “Lösung” für die Probleme zu finden, also es zum Schlafen oder zum Essen zu bringen. Das führt dann dazu, dass eine unbeschwerte, entspannte Eltern-Kind-Interaktion erschwert wird (Lohaus, Vierhaus, Maass, 2019).

Was sind die Ursachen für Regulationsstörungen?

Es gibt verschiedene Faktoren, die das Auftreten einer Regulationsstörung begünstigen. Oft gibt es nicht nur den einen Grund, sondern eine Kombination aus Faktoren erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Regulationsstörung.

1. Faktoren beim Kind

– Organische Faktoren (z.B. Früh- oder Mangelgeburt, kindliche Schluckstörungen)
– “Schwieriges” Temperament (z.B. Hypersensitivität)
– Genetische Veranlagung (z.B. eingeschränkte neurologische, somatische
oder psychische Reifungsprozesse)

2. Faktoren bei den Eltern

– Psychische Belastungen (z.B. Stress & Ängste, Depressionen, Substanzmissbrauch)
– Probleme innerhalb der (Herkunfts-)Familie
– Partnerschaftsprobleme
– Berufliche Belastungen
– Soziale Belastungen
– Sozioökonomische Belastungen

3. Faktoren, die die Eltern-Kind-Interaktion betreffen

Einerseits ist es eine Folge der Regulationsstörung, dass das Zusammenspiel zwischen Eltern und Kind beeinträchtigt wird. Andererseits kann eine gestörte Eltern-Kind-Interaktion auch dazu beitragen, dass Regulationsstörungen überhaupt erst entstehen bzw. aufrechterhalten werden (Muris, Meesters, & van den Berg, 2003).

Behandlungsmöglichkeiten

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Regulationsstörungen zu behandeln und deren Folgen für die Eltern-Kind-Interaktion abzumildern:

1. Physische und psychische Entlastung der Eltern

Bei Regulationsstörungen geht es erst mal darum, die Eltern physisch und auch psychisch zu entlasten. Das kann zum Einen dadurch erfolgen, dass die Eltern bzw. die Bezugsperson zusätzliche Unterstützung erhält. Das können andere Verwandte oder Bekannte sein, die Aufgaben im Haushalt übernehmen oder zeitweise das Baby betreuen.

So hat die Bezugsperson die Gelegenheit, kurz durchzuatmen und sich aus dieser belastenden Situation zu lösen. Auch die Einstellung einer Haushaltshilfe ist eine Möglichkeit, für deren Kosten nach ärztlicher Bestätigung die Krankenkasse aufkommt.

2. Eltern-Kind-Beratung

Ein wichtiges Element der Behandlung ist die Eltern-Kind-Beratung. In diesem Rahmen erhalten die Eltern Informationen, wie sie mit dem Verhalten des Babys angemessen umgehen können. So ist es in der Regel sinnvoll, eine (weitere) Überstimulation des Babys zu vermeiden.

Einerseits erreicht man das dadurch, das die Umgebung des Babys reizarm gestaltet wird. Andererseits sollte man auch darauf achten, dass das Baby in Schreiphasen nicht permanent im Arm geschaukelt wird, da das wiederum zu einer Überstimulation führt.

Eltern-Kind-Beratungen zielen also im Großen und Ganzen darauf ab, die Kompetenzen der Eltern zu stärken und die Verunsicherung zu reduzieren.

3. Schreiambulanzen

Wer Hilfe sucht, findet auch Unterstützung in den sogenannten Schreiambulanzen, die es in vielen größeren Städten gibt. Neben den bereits erwähnten Möglichkeiten zur Eltern-Kind-Beratung finden sich dort auch Angebote, die direkt auf das Kind oder die Bezugsperson abzielen. Die unterschiedlichen Disziplinen, die dort vertreten sind (z.B. Sozialpädagogen, Ergotherapeuten oder Psychotherapeuten), sorgen gemeinsam dafür, dass sich die Gesamtsituation der Familie verbessert.

Fazit

Regulationsstörungen können eine friedliche, harmonische Eltern-Kind-Interaktion erschweren. Es gibt jedoch Maßnahmen, mit denen die Familiensituation entlastet werden kann und somit wieder ein liebevolles Miteinander möglich ist. Eltern sollten auch immer daran denken, dass es nicht ihre “Schuld” ist, wenn dadurch das Zusammenleben beeinträchtigt wird.

Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Seid ihr selbst betroffen oder kennt ihr Menschen, deren Kind eine Regulationsstörung hat? Ich freue mich über eure Kommentare!

Hier geht es zum nächsten Artikel mit zusätzlichen Informationen zum Thema “Schreikinder”.

Literatur & Links

Dale, L. P., O‘Hara, E. A., Keen, J., & Porges, S. W. (2011). Infant regulatory disorders: Temperamental, physiological, and behavioral features. Journal of developmental and behavioral pediatrics: JDBP, 32), 216.

Lohaus, A., Vierhaus, M., & Maass, A. (2019). Entwicklungspsychologie. Berlin: Springer.

Muris, P., Meesters, C., & van den Berg, S. (2003). Internalizing and externalizing problems as correlates of self-reported attachment style and perceived parental rearing in normal adolescents. Journal of Child and family Studies, 12, 171-183.

Papoušek, M. (2005) Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Münchner Medizinische Wochenschrift, 2005, 1-9.

Papoušek, M. (2002). Störungen des Säuglingsalters. Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie des Kindes-und Jugendalters. Thieme, Stuttgart, 80-100.

Postert, C., Averbeck‐Holocher, M., Achtergarde, S., Müller, J. M., & Furniss, T. (2012). Regulatory disorders in early childhood: Correlates in child behavior, parent–child relationship, and parental mental health. Infant Mental Health Journal, 33, 173-186.

https://www.aerzteblatt.de/archiv/133452/Psychotherapie-im-fruehen-Kindesalter-Moeglichkeiten-und-Grenzen

https://www.familienhandbuch.de/unterstuetzungsangebote/beratung/schreiambulanzen.php

https://www.schreibabyambulanz.info/

Ein Kommentar

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